Kindheitsgeschichten - ein Textbeispiel

Sára Deszéry, Mein Kinderstuhl

Ich bin in Ungarn geboren, in Budapest. 1956 habe ich meinen Kinderstuhl verloren.

Mein Kinderstuhl. Auf diesem Stuhl habe ich die Welt kennen gelernt, jedenfalls ein Stück davon. Mit seinen vier Beinen hat er mir festen Halt gegeben auf dem Boden, und ich habe ihn überall mit mir herumgetragen. Ich habe ihn den langen Hausflur entlanggetragen, in die vielen Zimmer, die links und rechts vom Gang abgingen. Ich habe ihn neben den Sessel meiner Großmutter gestellt und ihr zugehört, wenn sie Geschichten erzählt hat – Geschichten über Budapest, der alten Stadt. Ich habe ihn ins Wohnzimmer getragen, wenn Besuch da war – Freunde, Bekannte, Verwandte – und wenn wir alle um den großen Tisch herum saßen und aßen und tranken und lachten und erzählten.

Ich habe den Geschichten zugehört – den Geschichten vom Markt, die die Mutter zu erzählen hatte, die Geschichten meines Cousins von der Schule und Geschichten der Erwachsenen vom Leben draußen. Manchmal erzählten sie sie mit merkwürdigen Blicken, die ich nicht recht verstand. Ich ging dann in mein Zimmer, kämmte meiner Puppe die Haare und erzählte ihr meine Geschichten.

Ich habe den Stuhl neben das Klavier gestellt, wenn meine Mutter Klavier spielte und Jutka, meine Schwester, und ich dazu sangen. Meine Mutter konnte wunderschön Klavier spielen und singen. Und manchmal habe ich mich auf den Stuhl gestellt und auch versucht, Töne und Melodien zu spielen.

Mein Stuhl war meine Welt. Er war der feste Halt für mich.

„Sára, rasch, steh auf! Wir machen eine Reise, ich helf dir beim Anziehen.“ Ich war viel zu müde, um zu fragen, wohin wir denn reisen. Draußen war es noch stockdunkel. Zwei Pullover musste ich übereinander anziehen. Als ich in den Hausflur trat, standen da schon meine Schwester Jutka und mein Vater. Mein Vater hatte einen Rucksack auf dem Rücken. „Jede von euch kann ein Spielzeug mitnehmen“, sagte meine Mutter. Jutka nahm sofort ihre Puppe und drückte sie fest an sich. „Eins nur?“ „Eins!“ „Mein Stuhl!“, sagte ich. „Sára“, meine Mutter runzelte die Stirn, „der ist doch viel zu sperrig. Willst du nicht auch lieber eine Puppe mitnehmen?“ „Mein Stuhl!“ Ich sah, wie meine Mutter tief Luft holte. Irgendetwas war anders als sonst. „Mein Stuhl – sonst schrei ich!“ „In Ordnung.“ Meine Mutter ließ resigniert die Schultern sinken. „Aber du musst ihn selbst tragen.“ Das konnte ich.

Draußen war es noch stockdunkel. Wir überquerten den kleinen Platz, den Deáktér, und gingen zum Bahnhof. Es gab kaum ein Fenster, aus dem Licht schien. Am Bahnhof trafen wir auf eine kleine Gruppe Menschen, ebenso wie wir dunkel angezogen und mit einem Rucksack auf dem Rücken. Mit dem Zug verließen wir Budapest. Ich stellte meinen Stuhl in den Gang und schaute zum Fenster hinaus. Ich konnte nichts sehen, es war viel zu dunkel.

Endlich hielt der Zug an. Es war ein kleiner Bahnhof, an dem wir alle ausstiegen. Zwei fremde Männer erwarteten uns. Leise sprachen sie mit den Erwachsenen, und dann setzte sich unsere Gruppe in Bewegung – große und einige kleine dunkle Gestalten. Ich trug meinen Stuhl.

Nach einiger Zeit hätte ich gern eine Pause gemacht. Aber ich traute mich nicht zu fragen. Das war keine so lustige Reise wie sonst oft. Die Erwachsenen sahen ernst aus, gingen sehr schnell, und keiner sagte ein Wort.

Plötzlich hielt einer der beiden Männer an. Er zeigte auf ein niedriges Gebäude vor uns. Licht schien aus dem Fenster. „Das ist die russische Kaserne“, flüsterte er. „Wir müssen unter dem Fenster herkriechen – auf die andere Seite des Geländes.“ Und schon kroch er auf allen Vieren unter dem hell erleuchteten Fenster her. Andere folgten ihm. Hinter mir hörte ich meine Mutter flüstern. „Sára, zuerst dein Vater, dann du, dann Jutka, und dann komme ich.“

Zum Glück hatten Jutka und ich oft am Park am Deáktér Verstecken gespielt, und auf dem Bauch robben und mich verstecken, das konnte ich. Vorsichtig kroch ich unter dem Fenster her. Meinen Stuhl zog ich hinter mir her.

Wir erreichten alle die andere Seite des Geländes. „Rasch!“, sagte der fremde Mann. Er trieb uns zur Eile an. Und dann geschah es: Wir mussten einen kleinen Bach überqueren. Vor mir lief mein Vater. Auf dem kleinen Steg über den Bach stolperte er, strauchelte und fiel in den Bach. Ich musste ihm helfen. Ohne viel nachzudenken, streckte ich ihm beide Arme entgegen, und dabei fiel mein Stuhl in den Bach. Zwei Männer vor uns zogen meinen Vater heraus. „Schnell“, sagten sie, „wir müssen uns beeilen.“ „Mein Stuhl!“, flüsterte ich. „Später“, hörte ich meine Mutter sagen.

Wir rannten durch ein kleines Wäldchen, bis wir nach fünf Minuten den Rest der Gruppe erreichten. Ein weiterer fremder Mann war hinzugekommen. Leise sprach er mit den beiden anderen fremden Männern. Dann drehten die sich um und gingen zurück.

„In etwa zwanzig Minuten sind wir in Österreich“, sagte der Fremde. „Und mein Stuhl?“, fragte ich. „Den holen wir später!“, erwiderte meine Mutter.

An einem Feld gingen wir entlang, dann durch ein kleines Wäldchen, und nach einiger Zeit waren wir in Österreich – in Sicherheit, wie die Erwachsenen sagten. „Und wann holen wir jetzt meinen Stuhl?“ – „Wir können nie wieder nach Ungarn zurück“, sagte eine Frau aus der Gruppe.

Mir wurde ganz kalt. Mir wurde auch nicht warm, als wir in ein Lager kamen und dort als erstes eine Tasse heißen Tee zu trinken bekamen. Wo sollte ich denn sitzen?

Ich legte mich auf den Boden und starrte an die Decke. Ich hatte meinen Stuhl verloren.

Aber ich musste doch meinem Vater helfen.

1956, auf der Flucht aus Ungarn, verlor ich meinen Kinderstuhl.


Wenn Sie Ihre Lautsprecher eingeschaltet haben, haben Sie wahrscheinlich eben zwei Kinder singen hören. Es war ein ungarisches Kinderlied "Fing mir eine Mücke heut'.". Wollen sie es noch einmal hören - in längerer Fassung (575 KB)? Dann klicken Sie bitte hier.