Die kleinen Freuden, mehr aber noch das Leid der Kinder der vergangenen Jahrzehnte wurden lebendig, als Christel Lueb-Pietron im Evangelischen Gemeindezentrum Homberg-Süd am Sonntag, dem 16.11.2003, abends um 20.00 Uhr „Kindheitsgeschichten“ erzählte. Nikola Barth begleitete sie dabei am Flügel. Mehr als 60 Zuhörer waren der Einladung der gefolgt.
Ein eigenwilliges Bild bot sich den Zuhörern. Vorn standen vier Stühle nebeneinander. Sie stammten erkennbar aus verschiedenen Zeitepochen aus den Jahrzehnten, welche die Geschichten in Erinnerung brachte: aus den dreißiger, den vierziger und den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Verschnürte Päckchen lagen auf den Stühlen, Puppen saßen darunter, ein Kinderball lag daneben.
Dann kam Christel Lueb-Pietron herein: In der Hand hielt sie einen fünften Stuhl, einen blauen, abgeschabten Kinderstuhl. Und begann zu erzählen nicht als Erwachsene, sondern sie sprach die literarischen Texte jeweils als das Kind, das seinen eigenen Blick hatte für die Menschen und Ereignisse seiner Zeit, oftmals grundverschieden vom Blick der Erwachsenen.
Zuerst kam Sará Deszérey zu Wort: ein ungarisches Mädchen, das bei der Flucht im Umfeld des Ungarnaufstands 1956 seinen Kinderstuhl verlor den Stuhl, der ihm jahrelang Halt, Sicherheit und Zuhause gegeben hatte. Ein ungarisches Kinderlied (von Homberger Mädchen auf Band gesungen) ließ die Erinnerungen nachklingen.
Ein Walzer leitete über zu einer Kindheitsgeschichte aus dem Österreich der dreißiger Jahre (Ingeborg Bachmann), gefolgt Erinnerungen an die sog. Reichskristallnacht (Margaret Klare): ein Mädchen, das hatte sich mit Safi, einem Zigeunermädchen, angefreundet. Durch eine Hecke hindurch hatten sie sich Töne zugeflötet (Nikola Barth und Christel Lueb-Pietron spielten die Flöten). Unfassbar war es für das Mädchen, dass nach der Pogromnacht keine Safi mehr antwortete. Die Töne gingen ins Leere und die Stille den Zuhörern durch Mark und Bein.
Nach der Pause ging es weiter mit Elke Oertgen-Twiehaus (Koblenz in den letzten Kriegsjahren) und mit Ulla Hahn und damit ins katholische Rheinland. Fritz, die Negerpuppe sollte weiß werden. Aber weder der Rosenkranz noch die Taufe noch die Arme des Jesuskindes in der Krippe halfen. Tröstlich war, dass der Pastor das Mädchen verstand.
Auf dem kleinen Kinderstuhl hatte Christel Lueb-Pietron ihre Erzählreihe begonnen, dann war sie von Erzählung zu Erzählung einen Stuhl weitergerückt: „Mein rechter, rechter Platz ist frei...“ Jetzt am Ende bat sie einzelne Zuschauen aufzustehen und ihr ihren Stuhl zur Verfügung zu stellen um die Reihe der Stühle, der Erzählungen, der Erinnerungen weiterzuführen bis in die Gegenwart hinein.
Am Ende des Abends stand ein Wort von Erich Kästner: „Es ist nämlich gleichgültig, ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint, oder weil man, später einmal, einen Freund verliert. Es kommt im Leben nie darauf an, worüber man traurig ist, sondern nur darauf, wie sehr man trauert. Kindertränen sind, bei Gott, nicht kleiner und wiegen oft genug schwerer als die Tränen der Großen.“
Diese Sätze hätten aber auch als Überschrift am Anfang stehen können. Kinder das wurde immer wieder deutlich sind nicht Erwachsene im Kleinformat, sondern haben ihre eigene Art des Erlebens, des Erinnerns und wahrhaftig genügend Grund, Tränen zu vergießen. Das spürten die Zuhörer, die bisweilen selber den Tränen nahe schienen, aber auch Grund zum fröhlichen Lachen fanden.
Großen Beifall schenkten die Zuhörer den beiden Künstlerinnen Christel Lueb-Pietron für ihr Erzählen, ihre einfache und zugleich prägnante Art der Inszenierung, Nikola Barth für ihre einfühlsame Art der musikalischen Unterstützung.